Mittwoch, 4. Januar 2017
Früher hatten wir Zeit. (Ein kleines Plädoyer zur Entschleuinigung)
Früher hatten wir Zeit.

Als die Zeit im Überfluss vorhanden war, hatten wir sie einfach. Vielleicht auch, ohne es zu merken. Als sie dann knapper wurde, nahmen wir uns einfach die nötige Zeit, die gewünschte Zeit für dies & jenes.

Dann nahm man uns die Zeit: Man stahl sie unseren Kindern. Und innerhalb von ein, zwei Generationen ist sie futsch, die Zeit, die gute, alte – nein, die Zeiten, als Zeit noch Zeit war, um es in Anlehnung an Handkes genial philosophischen Spielfilm „Der Himmel über Berlin“ zu sagen. Der stammt ja sogar noch aus dieser, ja, Zeit.

Zum Beispiel die Musik.
Früher latschten wir quer durch die ganze Stadt zum einzigen Plattenladen weit und breit, um uns die neue Single von The Police, The Cure, Visage oder den Eurythmics zu kaufen. Wir blätterten durch die endlose Reihe von Singles, delektierten uns an den Maxis und trauten uns gelegentlich an LPs.

Wir fragten schüchtern-verschämt, ob wir sie uns anhören dürfen – und stülpten uns huldvoll, demütig und neugierig die etwas zu großen Kopfhörer über, waren ja noch halbwüchsige Steppkes damals. Dann eine Explosion: Auf den Punkt konzentriert, von nichts und niemandem abgelenkt, die Ära vor dem Mantra des always online, lauschten wir den neuen Klängen und fütterten unser Hirn und unser Herz mit neuen Sounds und Gebilden.

An guten Tagen (wenn man nicht wusste, was man tun sollte, oder zu viel Zeit hatte, also oft an eigentlich trostlosen Tagen) konnte das stundenlang so gehen. Bis einem die Ohren glühten. Die Öhrchen wurden immer so warm von den puscheligen Kopfhörern damals, die gegenüber den heutigen Steck-Plugin-Modellen wie übergroße Sofakissen wirken.

Mit ein, zwei Neuerwerbungen verließen wir den Laden, glückselig lächelnd, wie bekifft (ohne überhaupt davon zu wissen, geschweige denn, dieses Gefühl erlebt zu haben, dafür waren wir in der 5. Klasse zu jung und zu brav). Dann trotteten wir nach Hause, erklommen die Stufen ins Kinderzimmer im 1. Stock, öffneten vorsichtig mit einem leichten Knarzen den anthrazitfarbenen Deckel der breiten, massiven Grundig-Stereoanlage und vertieften uns in die Platte.

Hörten uns rein.

Die Nadel draufgesetzt, und ab ging die Luzie. Ließen sie rauf und runter laufen. Bei LPs erforschten wir erst die A-Seite und dann, nach 5 oder 6 Liedern, führten wir uns die B-Seite zu Gemüte. Wenn einem ein Song besonders gut gefiel, musste man aufstehen und die Nadel, den Saphir, behutsam auf die gewünschte Rille setzen. Jedes Mal von vorne. Oder, nach erfolgter Raubkopie (nur nannte das damals keiner so), die Kassette zurückspulen. Dann wurden die besten Songs als Trophäe oder Freundschafts- oder Liebesbeweis weitergereicht an auserlesene Kumpels oder angebetete Mädels. Ein Stichwort: Mixtape.

Aber auch viele komplette LPs. Dumm nur, dass manchmal das gesamte Oeuvre auf eine Kassettenseite nicht passen wollte. Dann waren wir gezwungen, einen Song wegzulassen, also den schwächsten rauszufiltern, oder ihn auf eigene Art ausfaden zu lassen. Kacke war der Interruptus, also wenn man die Aufnahme einfach weiterlaufen ließ, bis sie abrupt stoppte. Anschließend musste man aufstehen, zum Kassettenrekorder oder Kassettendeck gehen und das Ding umdrehen. Dann konnte es weitergehen. Genial war die Erfindung der „Auto Reverse“-Funktion. Für Platten gab es die nicht ;-)

Aber das war auch schön und in Ordnung so: Alles hatte seine Zeit, alles hatte seinen Platz. Kein Explorer oder keine Google-Suche half beim Zimmeraufräumen oder beim Suchen vermisster Singles. Alles hatte seine Rituale und seine Muße.

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Hach, da geht einem ja das Herz auf bei diesem fein verworteten Blick zurück. Gleich mal die aktuelle Neil Young auflegen, die neulich nach langem Plattenkistenblättern mit nach Hause durfte.

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